Carola Giedion-Welcker (1893–1979) und Sigfried Giedion (1888–1968)

Carola Giedion-Welcker, geb. 25. April 1893 in Köln, gest. 21. Februar 1979 in Zürich
Sigfried Giedion, geb. 14. April 1888 in Prag, gest. 9. April 1968 in Zürich

Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker gehören zu den aussergewöhnlichen Paaren, die gleichberechtigt und eigenständig im internationalen Netzwerk der künstlerischen, architektonischen und literarischen Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts agierten. Sie erkannten bahnbrechende neue Positionen und führten deren Protagonisten zusammen, trieben die Bewegung der Moderne publizistisch an und verbreiteten und verteidigten deren Ideale.

Ihre Wege kreuzten sich in München, wo Sigfried Giedion, der in Prag geborene und in Wien aufgewachsene Schweizer Fabrikantensohn seit 1914 Kunstgeschichte studierte, und wohin Carola Welcker, die Kölner Bankierstochter mit amerikanischen Wurzeln nach begonnenem Studium der Archäologie in Bonn und einer Zwischenstation in Freiburg im Breisgau, zum Sommersemester 1915 wechselte. Die Themen ihrer Dissertationen orientierten sich an den Forschungsgebieten des gemeinsamen Professors Heinrich Wölfflin: Giedions «Spätbarocker und romantischer Klassizismus» und Welckers «Bayerische Rokokoplastik. J. B. Straub und seine Stellung in Landschaft und Zeit». Für ihren Abschluss wechselte Welcker wieder zurück zu Paul Clemen nach Bonn. Nach ihrer Hochzeit 1919 in Weggis am Vierwaldstättersee zog das Ehepaar 1926 in die 1915/16 von Bischoff & Weideli erbaute Villa der Familie Giedion im Zürcher Doldertal 7. Sigfried Giedion entschied sich nach ersten schriftstellerischen Versuchen ebenso wie Carola Giedion-Welcker für die Kunstkritik. Während bei ihm mit seinen Publikationen Bauen in Frankreich. Eisen, Eisenbeton (1928) und Befreites Wohnen (1929) die Architektur mehr Raum gewann, begann sie in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre als eine der ersten deutschsprachigen Forscherinnen ihre langjährige Auseinandersetzung mit dem Werk von James Joyce, die in ihre frühen Aufsätze «Zum Ulysses von James Joyce» (1928) und «Work in Progress. Ein sprachliches Experiment von James Joyce» (1929) mündete.

1925 und 1929 waren für beide Schlüsseljahre. Angeregt sowohl durch die Aktivitäten Franz Rohs, dem Freund und ehemaligen Wölfflin-Assistenten, wie auch durch die 1925 beginnende intensive Freundschaft mit László Moholy-Nagy erarbeiteten sich die Giedions eine eigene Position zur «Neuen Optik». So lautete der ursprüngliche Titel der Ausstellung Abstrakte und surrealistische Malerei und Plastik im Zürcher Kunsthaus, die sie 1929 gemeinsam mit Hans Arp als Reaktion auf die Stuttgarter Ausstellung Film und Foto (FiFo) organisierten. Anschliessend folgten noch weitere gemeinsame mit Arp realisierte Ausstellungen in Zürich – Produktion Paris 1930 (1930) im Kunstsalon Wolfsberg und Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik (1936) im Kunsthaus Zürich, Letztere in Kooperation mit Leo Leuppi und Max Bill. Die Zeit der Giedion’schen Gemeinschaftsprojekte war jedoch kurz und ein gemeinsam verfasster Text oder eine gemeinsame Publikation sind bis heute nicht bekannt.

Im Laufe der 1920er Jahre wuchs der Freundes- und Bekanntenkreis der Giedions immer mehr an und weitete sich international aus. Das Netzwerk wurde zum einen über Institutionen wie das Weimarer und Dessauer Bauhaus und die Internationalen Kongresse für Neues Bauen / Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM), deren Generalsekretariat Sigfried Giedion mit der Gründung 1928 übernommen hatte, geknüpft. Zum anderen stellten einzelne Personen und Orte Fixpunkte auf ihrer kulturellen Landkarte dar, darunter München mit Franz Roh und Jan Tschichold, Hannover mit dem Museumsdirektor Alexander Dorner und der Künstlervereinigung Abstrakte Hannover, Paris mit James Joyce, Le Corbusier und Christian Zervos, dem Herausgeber der Zeitschrift Cahiers d’Art, und das nahe Paris gelegene Meudon mit Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp, Theo und Nelly van Doesburg. Weitere Verzweigungen des Beziehungsnetzes ergaben sich in den 1930er Jahren durch den immer intensiver werdenden Kontakt zu den CIAM-Delegierten verschiedener Länder und durch die Emigration enger gemeinsamer Freunde wie Walter und Ise Gropius, Marcel Breuer und László Moholy-Nagy zunächst nach England und dann in die USA.

In den 1930er Jahren trieb Sigfried Giedion die Realisierung der Werkbundsiedlung Neubühl in Zürich voran, war Mitinitiator der Wohnbedarf AG und beauftragte Alfred und Emil Roth und Marcel Breuer mit dem Bau von zwei modernen Wohnhäusern neben der eigenen gründerzeitlichen Villa. Während dieser Zeit verfolgten beide Giedions intensive Studien. Er recherchierte für das mehrbändige unveröffentlichte Publikationsprojekt «Die Entstehung des heutigen Menschen» und sie konzentrierte sich auf die zeitgenössische Bildhauerei und Plastik, immer wieder verbunden mit einem Abstecher in die Literatur. 1932 besprach sie die von Eugene und Maria Jolas herausgegebene Zeitschrift transition und publizierte dort anschliessend eigene Artikel über «Die Funktion der heutigen Sprache in der Dichtung» und «Neue Wege der heutigen Plastik». Die Freundschaft mit Hans Arp und die Künstlerkontakte, die er in diesen Jahren vermittelte, legten ebenso wie die Auswahl der Werke in den Ausstellungen von 1929 und 1930 den Grundstock ihrer ersten grösseren Publikation, des Überblickswerks Moderne Plastik (1937). Bis in die 1950er Jahre trug sie eine umfangreiche Fotosammlung zur zeitgenössischen Skulptur und Plastik zusammen, aus der sie für ihre Veröffentlichungen schöpfte.

Im Gegensatz zu den 1920er Jahren agierten Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker nun meist unabhängig voneinander. Mit der Einladung an Sigfried Giedion zur Übernahme der Eliot Norton Lectures an der Harvard University in Cambridge, Mass. (1938) veränderte sich ihr gemeinsames Leben grundlegend. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und dem Kriegseintritt der USA war eine Rückkehr in die Schweiz nicht vor 1945 möglich.

Derweil verfolgte Carola Giedion-Welcker in Zürich ihren eigenen Weg und legte ihre neuesten literarischen Erkenntnisse in den Publikationen Die neue Realität bei Guillaume Apollinaire (1945) und Poètes à l’écart. Anthologie der Abseitigen (1946) dar. In den 1950er Jahren publizierte sie wichtige Monografien zu Hans Arp (1957) und Constantin Brancusi (1958).

Sigfried Giedion, der 1941 mit Space, Time and Architecture die Inhalte seiner ersten amerikanischen Vorlesungsreihe veröffentlicht hatte, untersuchte während seines USA-Aufenthalts die Geschichte der Mechanisierung des Alltags und publizierte nach seiner Rückkehr in die Schweiz das von den Eindrücken des Krieges geprägte Werk Mechanization Takes Command (1948). Seine Veröffentlichungen der 1940er Jahre wie auch das Spätwerk Eternal Present (1962–1965) entstanden allesamt im Zusammenhang seiner amerikanischen Lehraufträge und umspannen ein weites Feld, das neben Architekturgeschichte auch soziologische, psychologische und anthropologische Aspekte berührt. Durch seine Lehrtätigkeit und durch seine Aktivitäten als Generalsekretär der CIAM trug er massgeblich zur Verbreitung der Architekturmoderne in Europa und in den USA bei.

Carola Giedion-Welcker wiederum verband das Interesse an moderner Kunst mit der Begeisterung für die literarische Avantgarde. Mit ihren prägnanten Analysen der zeitgenössischen Bildhauerei, Literatur und Poesie und den stark ausgeprägten interdisziplinären Ansätzen, gelang es ihr, gattungsübergreifende Aussagen zum Gestaltungswillen ihrer Zeit zu machen.

Die Liste der von beiden bewunderten und geförderten Protagonisten, die sich in ihrem Zürcher Domizil trafen, ist lang. Hier kam eine breitgefächerte Gruppe aus Künstlern, Architekten, Verlegern und Schriftstellern, Literaten, Graphologen, Philosophen und Medizinern zusammen. Das herrschaftliche Haus im Doldertal, das bedeutende Kunstwerke und eine umfangreiche Bibliothek beherbergte, war über Jahrzehnte ein «Kraftort» der modernen Architektur, Kunst und Literatur.

Almut Grunewald

Zitierweise: Almut Grunewald, Bestandsbeschrieb Carola Giedion-Welcker und Sigfried Giedion, in: Website des gta Archivs / ETH Zürich, Mai 2021, https://archiv.gta.arch.ethz.ch/nachlaesse-vorlaesse/carola-und-sigfried-giedion-welcker
© gta Archiv / ETH Zürich und der Autor, alle Rechte bleiben vorbehalten. Dieses Werk darf für nichtkommerzielle, pädagogische Zwecke kopiert und weiterverbreitet werden, wenn die Erlaubnis des Autors und der Inhaber der Nutzungsrechte erteilt ist. Für die Genehmigung wenden Sie sich bitte an das gta Archiv.


Bestand



Den Teilnachlass erhielt das gta Archiv 2016 nach dem Tod von Andres Giedion, dem Sohn von Carola Giedion-Welcker und Sigfried Giedion. Er ergänzt die bereits im Archiv vorhandenen Bestände von Sigfried Giedion und dem CIAM-Archiv.

Der Bestand enthält:
  • 13 Hängeregisterschubladen Korrespondenz adressiert an Carola Giedion-Welcker und Sigfried Giedion (ca. 6000)
  • 3 Hängeregisterschubladen Korrespondenz zwischen Carola Giedion-Welcker und Sigfried Giedion (ca. 1000)
  • 4 Hängeregisterschubladen Fotografien (ca. 2200)
  • 2 Hängeregisterschubladen Biografika und Sachkonvolute
  • 9 Ordner und 6 Schachteln mit Verlagskorrespondenz und Postkartensammlung

Arbeitsmaterialien von Carola Giedion-Welcker zu ihren Publikationen sowie die Kunstbibliothek des Ehepaars finden sich im Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) in Zürich. Die Sammlung dadaistischer und surrealistischer Literatur von Carola Giedion-Welcker ist Teil der Bibliothek für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Zürich. In der Zurich James Joyce Foundation werden Dokumente und Literatur mit Bezug zu James Joyce bewahrt.


Ausgewählte Literatur



Schriften Carola Giedion-Welckers
  • Bayrische Rokokoplastik. J. B. Straub und seine Stellung in Landschaft und Zeit, München: O. C. Recht, 1922.
  • Moderne Plastik. Elemente der Wirklichkeit, Masse und Auflockerung. Zürich: Girsberger, 1937.
  • Modern Plastic Art. Elements of Reality, Volume and Disintegration, Zürich: Girsberger, 1937.
  • Plastik des XX. Jahrhunderts. Volumen und Raumgestaltung, Stuttgart: Hatje, 1955.
  • Contemporary Sculpture. An Evolution in Volume and Space, New York: Wittenborn, 1955; London: Faber & Faber, 1955.
  • In Memoriam James Joyce, Zürich: Fretz & Wasmuth, 1941.
  • Poètes à l'écart. Anthologie der Abseitigen, Bern: Benteli, 1946.
  • Die neue Realität bei Guillaume Apollinaire, Bern: Benteli, 1945.
  • Paul Klee, New York: Viking, 1952; London: Faber & Faber, 1952; dt. Ausg. Stuttgart: Hatje, 1954.
  • Paul Klee in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek: Rowohlt, 1961.
  • Hans Arp, Stuttgart: Hatje, 1957.
  • Constantin Brancusi, Basel/Stuttgart: Schwabe, 1958.
  • Alfred Jarry. Monographie, Zürich: Arche, 1960.
  • Antoine Pevsner, Neuchâtel: Ed. Griffon, 1961.
  • Park Güell de A. Gaudi, Barcelona: La Poligrafa, 1966.
  • François Stahly, Zürich: Graphis Press, Zürich, 1967.
  • Schriften 1926–1971. Stationen zu einem Zeitbild, hg. von Reinhold Hohl, Köln: Dumont, 1973.

Sekundärliteratur
  • Iris Bruderer-Oswald, Das Neue Sehen. Carola Giedion-Welcker und die Sprache der Moderne, Bern: Benteli, 2007.
  • Almut Grunewald (Hg.), Die Welt der Giedions, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2019.