ORL – Institut für Orts-, Regional und Landesplanung, ETH Zürich (1961–2002)

Das Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung der ETH Zürich (ORL) wurde 1961 gegründet und bestand bis Ende 2002. Der ETH-Schulrat legte in seinem Beschluss zur Institutsgründung drei Hauptaufgaben fest: Erstens sollte es dazu dienen, Studierende verschiedener ETH-Abteilungen zu Fragen der Orts-, Regional- und Landesplanung zu unterrichten. Mitte der 1960er Jahre wurde das Lehrangebot durch einen Nachdiplomstudiengang Raumplanung (NDS) für Ingenieure, Architekten und Planungspraktiker ergänzt. Zweitens sollte das interdisziplinär ausgestaltete Institut wissenschaftliche Planungsgrundlagen entwickeln und Beratungsaufträge für Gemeinden, kantonale Amtsstellen und die verschiedenen Behörden und Verwaltungsabteilungen des Bundes wahrnehmen. Drittens war vorgesehen, dass das ORL-Institut eng mit Organisationen und Verbänden zusammenarbeiten sollte. Man versprach sich davon eine Stärkung der schweizerischen Verkehrs- und Raumplanung, deren Professionalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse erst kurz zuvor in Gang gekommen waren.

Die Leitung des ORL-Instituts wurde einem Dreiergremium übertragen: Der Verkehrsingenieur Kurt Leibbrand wurde zum ersten Direktor des Instituts ernannt, der Architekt Walter Custer und der Geograph Ernst Winkler wurden seine Stellvertreter. Kurz nach der Institutsgründung im April 1961 wurde Leibbrand jedoch in Deutschland verhaftet. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart warf ihm mutmassliche Kriegsverbrechen vor, die er 1944 als Wehrmachtsoffizier in Südfrankreich begangen haben sollte. Die auf die Anklage folgenden Straf- und Revisionsprozesse führten zwar nicht zu einer Verurteilung Leibbrands. Weil sich die Gerichtsverfahren jedoch über Jahre hinzogen, musste er seinen Lehrstuhl an der ETH aufgeben. Für das ORL-Institut bedeutete Leibbrands abrupter Abgang kurz nach der Institutsgründung und die damit verbundenen Turbulenzen, dass sich während der ersten drei Jahre keine klaren Forschungs- und Beratungsstrukturen entwickeln konnten. Dieser unbefriedigende Zustand konnte im Frühjahr 1964 mit der Berufung von Martin Rotach auf den Lehrstuhl für Verkehrsingenieurwesen und an die Spitze des ORL-Instituts behoben werden.

Begünstigt durch das wachsende politische Bewusstsein für Probleme in den Bereichen Wohnungsbau, Bodenpolitik, Verkehr und Infrastrukturen sowie Gewässer- und Landschaftsschutz konnte Rotach das Institut rasch ausbauen. Mit der Erarbeitung erster Richtlinien für die Orts-, Regional- und Landesplanung und die Landesplanerischen Leitbildern, die das ORL-Institut im Auftrag des Bundes von 1968 bis 1971 erstellte, kam erstmals ein konsequent interdisziplinärer Forschungsansatz zum Einsatz: Neben Verkehrs- und Raumplanern wirkten daran auch Ökonomen, Soziologen, Juristen, Kulturingenieure, Geographen und Vertreter zahlreicher weiterer Forschungsrichtungen mit. Hauptzweck der Landesplanerischen Leitbilder war, schematische Hinweise für die künftige Entwicklung von Flächennutzung und Besiedlungsstruktur sowie Infrastrukturen und zentralen Einrichtungen für Behörden, Politik und Öffentlichkeit bereitzustellen.

Die Arbeiten des ORL-Instituts waren richtungsweisend für die konzeptionelle und methodische Entwicklung der Raumplanung in der Schweiz: Einerseits trugen sie wesentlich dazu bei, ein systemtheoretisches, auf Ganzheitlichkeit ausgerichtetes Planungsverständnis und entsprechende interdisziplinäre Forschungs- und Planungsmethoden zu etablieren. Andererseits wurde eine Vielzahl verkehrlicher, geographischer, ökonomischer und demographischer Daten erstmals erhoben und als statistische Basis für umfassende Planungsmodelle eingesetzt. Auch bei der Ausarbeitung von Verfassungs- und Gesetzesgrundlagen für die Raumplanung war das ORL-Institut führend beteiligt. So gehörten ORL-Mitarbeiter wie der Jurist Prof. Martin Lendi zu den Autoren des Bundesgesetzes über die Raumplanung (RPG), über das 1974 abgestimmt wurde. Rotach wiederum gab Ende 1971 die ORL-Leitung ab und wechselte für zwei Jahre als Beauftragter des Bundes für Raumplanung nach Bern. In dieser Funktion war er ebenfalls in die RPG-Arbeiten involviert.

Die vielfältigen Aufgaben des ORL-Instituts in Lehre, Forschung und Beratung führten zu einem schnellen Wachstum des Instituts. Von 1961 bis 1971 vervielfachte sich nicht nur das Budget, sondern auch der Personalbestand. Waren dem ORL 1961 nominal 16 Stellen zugeteilt, von denen aber vier unbesetzt blieben, arbeiteten Ende 1971 81 Personen und 20 Nachdiplomstudenten am Institut. Damit war das ORL zu einem der grössten und bedeutendsten interdisziplinären Institute der ETH geworden, wie im Geschäftsbericht 1971 zu lesen ist. Auch als Herausgeber zahlreicher Berichte zu Forschungs- und Beratungsprojekten sowie einer ab 1969 erscheinenden Schriftenreihe zur Orts-, Regional- und Landesplanung und der Zeitschrift DISP (bis zur Nr. 11/1969 als blosses Mitteilungsblatt des Instituts konzipiert) war das Institut überaus aktiv.

Mit der zunehmenden Integration von Verkehrs-, Raum- und Stadtplanern in Behörden und Verwaltungsabteilungen und weil zahlreiche privater Planungs- und Beratungsunternehmen gegründet worden waren, schwächte sich die zentrale Stellung des ORL-Instituts im Laufe der 1980er und 1990er Jahre ab. Dieser Bedeutungsverlust wirkte sich sowohl auf die Struktur des Instituts als auch auf seine Grösse und Finanzausstattung aus. Nachdem sich das ORL-Institut selbst mehrfach neue Strukturen gegeben hatte, wurde es im Herbst 2002 im Zuge der Reorganisation der Departementsstrukturen an der ETH Zürich als eigenständiges Institut aufgehoben. Teile des ORL-Instituts gingen ins neugeschaffene Institut für Raum- und Landschaftsentwicklung (IRL) über und bildeten zusammen mit anderen Instituten und Professuren verschiedener ETH-Departemente, z. B. dem Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT), die Basis für das Netzwerk Stadt und Landschaft (NSL). Auch das NSL nimmt Aufgaben in Forschung und Lehre wahr und beheimatet weiterhin die Redaktion der DISP, die nun als internationale Zeitschrift beim Verlag Taylor & Francis erscheint.

Stefan Sandmeier

Zitierweise: Stefan Sandmeier, Bestandsbeschrieb ORL Institut für Orts-, Regional und Landesplanung an der ETH Zürich (1961–2002), in: Website des gta Archivs/ETH Zürich, Februar 2015, archiv.gta.arch.ethz.ch/sammlungen/orl
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Bestand



Zum Bestand gehören circa 70 Laufmeter diverse Unterlagen aus dem Zeitraum von 1961 bis 2002. Das umfangreiche Material stammt aus sehr diversen Entstehungs- und Gebrauchszusammenhängen. Die Teilbestände sind deshalb sowohl hinsichtlich ihrer jeweiligen Provenienz als auch inhaltlich sehr heterogener Natur. Zu einem grossen Teil stammt das Material von Professoren sowie von den Mitarbeitern (wissenschaftliche Mitarbeiter und Assistenten, Doktoranden, Studierende) ihrer Lehrstühle und der ORL-Abteilungen, zu denen sie gehörten. Darunter finden sich beispielsweise Akten und administrative Unterlagen zu Instituts- und Lehrstuhlangelegenheiten, Jahresberichte und Publikationslisten, Unterlagen zu Forschungs- und Beratungsprojekten in der Schweiz und im Ausland, eigene Artikel für Fachzeitschriften und weitere Publikationen sowie Vortragsskripte. Hinzu kommt eine grosse Menge an Fachliteratur, Büchern, Broschüren, Zeitschriften, Zeitungsausschnitten, Notizen und Korrespondenzen zu diversen Themenbereichen wie Verkehrs- und Raumplanung, Städtebau, Architektur, Planungsrecht oder Verkehrspolitik.

Trotz der Vielfalt der Unterlagen lassen sich einige inhaltliche und chronologische
Schwerpunkte identifizieren: Ein wichtiges Element fast aller Teilbestände bilden die Unterlagen zu Lehrveranstaltungen, die zu verschiedenen ETH-Studiengängen gehörten sowie Teile des Nachdiplomstudiums Raumplanung waren. Dazu gehören beispielsweise gedruckte und teils in Buchform publizierte Vorlesungsskripte, Übungen und studentische Arbeiten. Ein beträchtlicher Teil dieser Unterlagen stammt aus dem Zeitraum zwischen 1965 und 1975 und gewährt tiefe Einblicke in das damalige Planungsverständnis und die dazugehörigen Theorien und Methoden.

Einen weiteren thematischen Schwerpunkt bilden Unterlagen zur Mitarbeit von ORL-Mitgliedern in Kommissionen und Arbeitsgruppen des Bundes aus den 1960er und 1970er Jahren. Diese standen zum einen im Zusammenhang mit der Erarbeitung von materiellen Planungsgrundlagen wie den Landesplanerischen Leitbildern. Zum anderen ging es um die rechtlichen und verfassungsmässigen Grundlagen für die Raumplanung in der Schweiz: Bundesbeschlüsse, Gesetzesvorlagen und Verfassungsartikel wurden oft in enger Kooperation von Verwaltung und Behörden, Vertretern politischer Parteien (meist National- oder Ständeräte), Verbands- und Interessenvertretern sowie den Wissenschaftlern des ORL-Instituts ausgearbeitet. Weiter finden sich ausführliche Unterlagen zur Institutionalisierungsgeschichte der Raumplanung.

Einen dritten Schwerpunkt bilden die Hand- und Lehrstuhlbibliotheken mehrerer Professuren, die zum ORL-Institut gehörten:
  • ORL-Fachbereich Siedlung: Bibliothek Benedikt Huber (1973–1993 Professor für Architektur und Städtebau)
  • ORL-Fachbereich Architektur und Städtebau: Bibliothek Franz Oswald (1972–1993 Professor für Architektur und Entwurf, 1993–2003 für Architektur und Städtebau)
  • ORL-Fachbereich Volkswirtschaft und Raumordnung, Bibliothek Hans Flückiger (1997–2001 Professor für Raumordnung, davor 1977–1997 Bundesamt für Raumplanung, u. a. als Stellvertreter des Delegierten für Raumplanung, ab 1990 als Direktor)
  • Lehrbibliothek Nachdiplomstudium Raumplanung
  • Restbestände der ORL-Bibliothek inklusive eines Zettelkatalogs

Die Handbibliotheken der Professoren Huber, Oswald und Flückiger sind in mehrerer Hinsicht äusserst interessant. Erstens sind sie mehr oder weniger vollständig und in ihren ursprünglichen Strukturen erhalten und über katalogisierte Signaturen erschlossen. Zweitens ermöglichen sie Einblicke in die von den jeweiligen Lehrstühlen am ORL bearbeiteten Themen. Drittens liefern sie Momentaufnahmen von raumplanerischen, städtebaulichen, architekturtheoretischen und politischen Diskursen, die für das Denken und Arbeiten am ORL besonders während der 1970er und 1980er Jahre ausschlaggebend waren. Ähnliches gilt auch für die Restbestände der NDS-Bibliothek und der ORL-Bibliothek. Ein Grossteil der ehemaligen Bestände dieser beiden Bibliotheken findet sich heute im Bestand der ETH-Bibliothek und kann über in Swisscovery SLSP gefunden und bestellt werden.

Weitere Bestände im gta Archiv enthalten Material, das den Bestand ORL inhaltlich und thematisch ergänzt: Teile der Sammlung IVT – Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH Zürich, beispielsweise Lehrunterlagen sowie Filme und Diaserien, sowie Teile des Nachlasses Martin Rotach entstanden im Kontext des ORL-Instituts. Rotachs Lehrstuhl für Verkehrsingenieurwesen, aus dem Anfang 1975 das IVT hervorging, war bis 1971 Teil des ORL-Instituts.


Ausgewählte Literatur


  • Martin Rotach, Carl Hidber und Hellmut Ringli, Zielsetzungen und Konflikte. Landesplanerische Leitbilder der Schweiz, Zwischenbericht 1, Zürich 1969.
  • Hellmut Ringli und E. Heer, Anforderungskatalog für gesamtschweizerische Erhebungen auf dem Gebiet der Raumplanung. Eine Vorstudie zur Ergänzung der nationalen Planungsgrundlagen, Zürich 1973.
  • Martin Lendi und Hellmut Ringli, Raumordnungskonzept Schweiz gemäss den Randbedingungen der Chefbeamtenkonferenz: Entwurf Juni 1973, Zürich 1974.
  • Ernst Winkler, Gabriela Winkler und Martin Lendi, Dokumente zur Geschichte der schweizerischen Landesplanung, Zürich 1979.
  • Hellmut Ringli, Überörtliche Richtplanung nach dem Bundesgesetz über die Raumplanung. Zusammenfassende Berichterstattung zur Fortbildungstagung vom 28. Mai 1980 an der ETH Zürich, Zürich 1980.
  • Dieter Ackerknecht, Hellmut Ringli und Jakob Maurer, Erfahrungen zur überörtlichen Richtplanung. Ausgewählte Ergebnisse aus den Gesprächen einer ORL/BSP-Erfahrungsgruppe 1979 —1982, Zürich 1982.
  • Jakob Huber, Hellmut Ringli, Rudolf Zängerle, Jakob Maurer und Beat Schmid, Bevölkerungsvorausschau Kanton Zürich, Zürich 1985.
  • Mario F. Broggi, Wolf J. Reith, Fritz Ryser und Louis Jäger, Mehr Natur in Siedlung und Landschaft, hg. von der Baudirektion Zürich, Zürich 1985.
  • Hellmut Ringli, Susanne Gatti-Sauter und Bernhard Graser, Kantonale Richtplanung in der Schweiz. Praxisbeispiele und planungsmethodische Erkenntnisse, Zürich 1988.
  • Susanne Gatti-Sauter, Jakob Maurer und Hellmut Ringli (Hg.), Zur künftigen Richtplanung in der Schweiz. Lagebeurteilung und Ideen für die Zukunft, Zürich 1989.
  • Ernst Heer und Hellmut Ringli (Hg.), Fragen zur Raumentwicklung der Schweiz. Künftige Aufgaben der Raumplanung und der RaumplanerInnen, Zürich 1989.
  • Alfred Kuttler und Hans Flückiger, Umweltschutz und Raumplanung. Referate der Mitgliederversammlung 1990, hg. von der Schweizerischen Vereinigung für Landesplanung VLP, Bern 1990.
  • Kurt Egli, Hellmut Ringli und Ursula Schmidt, Auf dem Weg zu einer wirkungsvolleren kantonalen Richtplanung. Zwischenbericht 1995 aus einem ständigen Erfahrungsaustausch an der ETH Zürich, Zürich 1995.
  • klr, pro, Vom ORL zum NSL. ETH Zürich gründet «Netzwerk Stadt und Landschaft NSL», Zürich 2002.
  • Martina Koll-Schretzenmayr und Martin Meier, Zur Geschichte der Landesplanung in der Schweiz / On the History of Regional Planning in Switzerland, in: DISP 159 (2004), S. 2–3.
  • Martin Lendi, Zur Geschichte der schweizerischen Raumplanung, in: DISP 167 (2006), S. 66–83.
  • Martin Lendi, Geschichte der schweizerischen Raumplanung – Ein Aufriss. Raumplanung als öffentliche, zugleich als wissenschaftliche Aufgabe, 2010, in: ETH Zurich Research Collection.
  • Martina Koll-Schretzenmayr, Gelungen? Misslungen? Die Geschichte der Raumplanung Schweiz, Zürich 2008.
  • Stefan Sandmeier, Die Etablierung der Verkehrsplanung an der ETH. Zur Vorgeschichte des IVT, Zürich 2009 (IVT/ETH Zürich, Arbeitsberichte Verkehrs- und Raumplanung, Nr. 545)