Historischer Städteatlas der Schweiz (1988–1994)

Das Projekt «Historischer Städteatlas der Schweiz» entstand in den 1980er Jahren am Lehrstuhl für Städtebaugeschichte der ETH Zürich auf Initiative von André Corboz und Martina Stercken. Es reiht sich ein in ein europäisches Forschungsprojekt der Internationalen Kommission für Städtegeschichte (IKSG) (www.historiaurbium.org), die 1955 am 10. Internationalen Kongress für Geschichtswissenschaften in Rom (4.–11. September) auf Betreiben von Hektor Amman, Schweizer Wirtschaftshistoriker, und Edith Ennen, deutsche Stadthistorikerin, als europäisches Forschungsnetztwerk gegründet worden war. Die IKSG hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Genese und die Entwicklung von Städten anhand eines möglichst einheitlichen Konzepts mit kanonisierten Text- und Plansammlungen monografisch zu dokumentieren und Städte dadurch sowohl auf nationaler als auf internationaler Ebene vergleichbar zu machen. Erste Städteatlanten erschienen 1972 in Grossbritannien und in Deutschland, inzwischen sind im gesamten europäischen Raum zahlreiche Städte nach einheitlichem Grundraster in dieser Reihe bearbeitet und publiziert worden.

Vor dem Hintergrund einer Stadtgeschichtsschreibung, die lange Zeit von unterschiedlichen Disziplinen nach eigenen Kriterien betrieben wurde, sollten die Städteatlanten der IKSG eine neue Richtung in der historischen Forschung einschlagen und die bauliche Struktur von Städten, ihr Wachstum und ihre morphologischen Veränderungen als Resultat ihrer Geschichte systematisch in eine allgemeine Darstellung von Stadt übertragen. Dieser Ansatz, der beispielsweise auch verfassungstopografische, wirtschaftshistorische, soziologische, demografische, geologische, archäologische oder kunsthistorisch-städtebauliche Aspekte miteinbezog, eröffnete grundlegend neue Perspektiven für das Verständnis von Wirkmechanismen bei der Gründung und Entwicklung von Städten und Städtenetzen.

Mit Blick auf einen Schweizer Städteatlas wurde im Rahmen einer durch den Schweizerischen Nationalfonds und die ETH Zürich finanzierten Studie zu Städtenetz und Stadttypen in der Nordostschweiz (1989–1992) die Übertragbarkeit des internationalen Kanons auf Schweizer Verhältnisse geprüft. Dazu wurden grundlegende Fragen zur Methodik systematischer Stadtbeschreibung behandelt und insbesondere die Quellenlage untersucht. Ein anderer Aspekt der Forschung betraf die digitale Erfassung, Bearbeitung und Darstellung topografischer und städtebaulicher Quellen. In Zusammenarbeit mit dem damals neubegründeten Lehrstuhl für Computer-Aided Architectural Design (CAAD) an der ETH Zürich wurden Wege aufgezeigt, wie insbesondere die städtische Ikonografie zeitgemäss bearbeitet werden konnte.

Die Studie zu Städtenetz und Stadttypen in der Nordostschweiz betraf keinen einheitlichen Kulturraum, sondern mehrere, sich zum Teil überlagernde Geschichtslandschaften unterschiedlicher Prägung mit einer Vielzahl mittelalterlicher Stadtgründungen, die zuvor noch kaum je untersucht worden waren. Damit eignete sich dieser geografische Raum in idealer Weise als Testfeld für den Schweizer Städteatlas. Für die monografische Bearbeitung wurden drei Städte mit je unterschiedlichen, für die Schweiz charakteristischen Stadttypen ausgewählt. Es war dies Frauenfeld, eine von Kyburgern und Habsburgern geförderte Gründungsstadt, die sich als kleinstädtisches Zentrum der Landvogtei Thurgau behauptete, sich zum regional bedeutenden Industriestandort entwickelte und sich als Kantonshauptstadt entfalten konnte. Neunkirch repräsentierte eine städtischen Kleinform, deren städtebauliche Qualitäten einer idealtypischen Gründungsstadt in einem widersprüchlichen Verhältnis zu ihrer Ausstattung und Ausprägung als Stadt standen. Die dritte Stadt war Weesen als Beispiel einer mittelalterlichen Stadtwüstung mit einer Nachfolgesiedlung, die sich trotz Verlust des Stadtrechts wesentliche städtische Rechte und Funktionen erhalten konnte.

Jede dieser drei Städte wurde in Übereinstimmung mit dem Programm der IKSG nach einem einheitlichem Grundraster in ihren wesentlichen Entwicklungszügen und Funktionen im Umland monografisch aufgearbeitet. Text- und Abbildungsteil umfassen die Anfänge der Stadtwerdung bis zu aktuellen Entwicklungen und verstehen sich als Quellensammlung mit wissenschaftlichem Kommentar. Die Entwicklung dieser Städte wurde von den Quellen her neu erarbeitet sowie in Texten wie in Plänen, thematischen Karten, Ansichten und Fotografien dargestellt. Zu den zentralen Plänen zählt jeweils ein sogenannter Urkataster, eine Umzeichnung der ersten parzellenscharfen Vermessungspläne auf moderne Katasterpläne sowie ein aktueller Stadtgrundriss im selben Massstab und Ausschnitt. Die thematischen Karten umfassen die wesentlichen Wachstumsphasen und gegebenenfalls eine kartografische Darstellung wichtiger Kräfte der Stadtentwicklung wie beispielsweise der Industrialisierung im Falle Frauenfelds. 1997 erschienen die ersten drei Faszikel des Historischen Städteatlas der Schweiz. Wissenschaftlich wurde das Projekt durch ein Kuratorium von Städtebauhistorikern, Historikerinnen, Kunsthistorikern, Architektinnen und Planern begleitet, das 1991 an der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften begründet wurde.

In gewisser Weise hat das Projekt Schweizer Städteatlas auch die Forschungen Paul Hofers weitergeführt, der als Vorgänger von André Corboz von 1964 bis 1980 den Lehrstuhl für Städtebaugeschichte innehatte und zur Entstehung und Entwicklung der mittelalterlichen Schweizer Städte und deren Strukturen einen wesentlichen, breit gefassten Beitrag geleistet hat.

Gabriela Güntert

Zitierweise: Gabriela Güntert, Bestandsbeschrieb Historischer Städteatlas der Schweiz, in: Website gta Archiv / ETH Zürich, März 2021, archiv.gta.arch.ethz.ch/sammlungen/historischer-staedteatlas-der-schweiz
© gta Archiv / ETH Zürich und die Autorin, alle Rechte bleiben vorbehalten. Dieses Werk darf für nichtkommerzielle, pädagogische Zwecke kopiert und weiterverbreitet werden, wenn die Erlaubnis der Autorin und der Inhaber der Nutzungsrechte erteilt ist. Für die Genehmigung wenden Sie sich bitte an das gta Archiv.

Bestand


  • Plankopien zu untersuchten Städten; Akten der Projektleitung, Grundlagen (z.B. Volkszählungsdaten): 12 Planschrankschubladen, ca. 10 Regallaufmeter

Ausgewählte Literatur


  • Christoph Luchsinger und Martina Stercken, Zur Konzeption eines Schweizer Städteatlasses, in: Unsere Kunstdenkmäler 39 (1988), Nr. 4, S. 438–448.
  • Martina Stercken, Städtische Kleinformen in der Nordostschweiz. Vorstudie zu einem Städteatlas, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 55 (1991), S. 176–204.
  • Dies., Stadt und Land. Entwicklungszüge in der Nord- und Ostschweiz, in: Werk, Bauen + Wohnen 79 (1992), Nr. 10, S. 38–44.
  • Dies., Stadtstatus und zentralörtliche Funktion. Weesen als habsburgische Kleinstadt und Flecken unter schwyzerisch-glarnerischer Herrschaft, in: Siedlungsforschung 11 (1993), S. 219–236
  • Dies., Studie zu Städtenetz und Stadttypen in der Nordostschweiz. Kurzbericht, in: Geschichte und Informatik 5/6 (1994/95), S. 68–72.
  • Dies., Die Befestigung kleiner Städte und städtischer Siedlungen in der Nordostschweiz, in: Stadt- und Landmauern, Bd. 1: Beiträge zum Stand der Forschung, Zürich 1995, S. 63–74.
  • Martina Stercken und Gabriela Güntert, Frauenfeld, Zürich 1997 (Historischer Städteatlas der Schweiz).
  • Martina Stercken, Neunkirch, Zürich 1997 (Historischer Städteatlas der Schweiz).
  • Weesen, Zürich 1997 (Historischer Städteatlas der Schweiz).
  • Dorothee Rippmann, Liestal, Zürich 2009 (Historischer Städteatlas der Schweiz).
  • Karin Fuchs, Chur, Zürich 2011 (Historischer Städteatlas der Schweiz).
  • Gabriela Güntert, Frauenfeld, in: Bernd Roeck u. a. (Hg.), Schweizer Städtebilder. Urbane Ikonographien (15.–20. Jahrhundert), 2013, S. 295–301.